Bugatti W16

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1997 konfrontiert der damalige Vorstandsvorsitzende der Volkswagen AG und Initiator so großartiger Fahrzeuge wie dem Porsche 909-Bergspider oder dem Über-Porsche 917, Ferdinand Piëch, VW-Aggregate-Chefentwickler Karl-Heinz Neumann mit einer ersten Idee. Die Skizze entsteht auf einen Briefumschlag während einer Zugfahrt im Shinkanzen Schnellzug von Tokio nach Osaka: zunächst schlägt Piëchs vor, einen Motor mit 18 Zylindern zu entwickeln. Aus Gründen der Leistungsentwicklung und weil ein Sechzehnzylinder besser in die Tradition von Bugatti passt, wandelt sich das Konzept zum W16-Motor.

Die Ingenieure beginnen auf einem leeren Blatt. Bei allen Bauteilen muss Grundsatzentwicklung betrieben werden, jedes Fahrzeugteil wird neu konstruiert und getestet, genauso wie der Motorprüfstand. Die Idee vom Briefumschlag findet den Weg in die Realität. Der neuentwickelte avantgardistische Motor verdankt seine Kompaktheit der Anordnung der Zylinder in W-Form und ist nicht größer als ein V12, bei rund 400 Kilogramm Gewicht. Zwei Achtzylinderblöcke sind im 90-Grad-Winkel zueinander angeordnet und werden von vier Abgasturboladern angetrieben. Besondere Aufmerksamkeit galt der Aerodynamik: das Auto musste am Boden bleiben, die Kraft musste auf der Straße bleiben – was bei Geschwindigkeiten von 400 Stundenkilometern nicht einfach ist.

Seit fast 20 Jahren treibt der Acht-Liter-W16-Motor nun die neuzeitlichen Bugatti an und er ist der einzige 16-Zylinder-Automobilmotor der Welt. Mit 1.001 PS Leistung startet das Aggregat in die Produktion: Als die Molsheimer 2005 die technischen Daten des Triebwerks für den Veyron 16.4 bekannt geben, sind sie eine Sensation. Nie zuvor hatte es ein solches Highend-Triebwerk in einem Serienfahrzeug gegeben. Eine solche Leistung gab es bis dahin nicht: Von Null auf 100 km/h vergehen nur 2,5 Sekunden und die Höchstgeschwindigkeit liegt bei über 400 Stundenkilometer. Mit dem Produktionsstart des Veyron 16.4 etabliert die Manufaktur aus Molsheim eine neue Fahrzeuggattung – den Hypersportwagen.

Im März 2016 stellt Bugatti mit dem Chiron dessen Nachfolger vor. Dessen Triebwerk, auch ein Acht-Liter-W16 mit vier Turboladern, glänzt mit einem Leistungsplus von 50 Prozent. Um dieses Niveau zu erreichen, wird jede einzelne Komponente unter die Lupe genommen. Größere Turbolader werden verbaut, genauso wie ein Duplex-Kraftstoffeinspritzsystem mit 32 Einspritzventilen. Mehr Carbon und Titan kompensieren die Gewichtszunahme durch die größeren Lader. Mit einer Leistung von zunächst 1.500 PS steigt diese später auf 1.600 PS, bei einem maximalen Drehmoment von 1.600 Newtonmetern.

Entscheidend für die Zuverlässigkeit des W16 ist ist komplexes Wasser-Kühlsystem mit zwei Wasserkreisläufen, das den Motor auch bei extremer Volllast im geforderten Temperaturbereich hält. Im Hochtemperaturkreislauf mit drei Kühlern im Vorderwagen fließen 40 Liter Wasser, um den Motor auf Betriebstemperatur zu halten. Der Niedertemperatur-Kreislauf mit separater Wasserpumpe enthält 15 Liter Kühlwasser und kühlt in zwei auf dem Motor angeordneten Wärmetauschern die erhitzte Ladeluft der Turbolader um bis zu 130 Grad ab. Dazu kommen je ein Kühler für das Differentialöl, das Getriebeöl und das Motoröl sowie der Wärmetauscher für die Klimaanlage. Der W16 ist ein längs eingebauter Mittelmotor, mit in Fahrtrichtung vor dem Motor angeordnetem Sieben-Gang-Doppelkupplungsgetriebe. In Verbindung mit den Trockensumpf-Schmierölsystemen für Motor und Getriebe sorgt der Antriebsstrang für einen tiefen Schwerpunkt.

Im Laufe der Jahre wird das Triebwerk weiter optimiert. Neben nochmals größer dimensionierten Turboladern und vielen Veränderungen im Motor leistet der W16 ab 2010 im Veyron 16.4 Super Sport 1.200 PS. Im selben Jahr erreicht der Super Sport mit 431,072 km/h einen Geschwindigkeitsrekord als schnellster straßenzugelassener Seriensupersportwagen.

Aktuell stehen die Ingenieure vor der Herausforderung mit dem Chiron ein ähnlich anspruchsvolles, aber noch luxuriöseres und leistungsstärkeres Nachfolgemodell zu entwickeln. Sie wollen den W16 stärker, leiser und kultivierter machen und gehen damit erneut an die Grenze des technisch Machbaren. Lediglich die kompakte Motorform und das Stichmaß von 73 Millimetern wird beibehalten werden, der Rest wird neu entwickelt. Das Ergebnis ist ein Triebwerk mit 1.500 PS,direkteren Ansprechverhalt und einer nochmals besseren Kraftentfaltung.

Wesentlich für die neue Leistungscharakteristik sind die Abgasturbolader mit einer neuen Bugatti-Registeraufladung. Die Leistungserhöhung auf zunächst 1.500 PS und für den Chiron Super Sport und Centodieci um weitere hundert PS auf 1.600 PS erfordert vier Abgasturbolader. Jeder Lader muss die adäquate Luftmasse für mindestens rund 380 PS zur Verfügung stellen. Möglich wird das mit der zweistufig geregelten Registeraufladung, bei der zwei in Serie geschaltete Turbolader zum Einsatz kommen. Diese sind um 69 Prozent größer als die des Veyron.

Nur wenn alle vier Turbolader – zwei auf jeder Zylinderbank – im Einsatz sind, erreicht der Motor seine maximale Leistung. Beim Chiron sind der permanent laufende Abgasturbolader und der abschaltbare Abgasturbolader gleich groß – ideal für einen gleichmäßigen Drehmomentverlauf ohne spürbare Einbrüche. Das dazugehörige Auslassventil muss Temperaturen von 980 Grad Celsius standhalten und dabei voll beweglich bleiben – Bugatti verwendet daher für die Hauptkomponenten eine spezielle Hochtemperatur-Werkstofflegierung.

Der Lohn der Entwicklungsarbeit: 2019 überschreitet der Chiron Super Sport 300+ als erstes Serienfahrzeug die 300-Meilen-Marke. Mit einer Geschwindigkeit von exakt 304,773 mph (490,484 km/h) ist der Chiron Super Sport 300+ der schnellste Seriensportwagen überhaupt. Gleichzeitig erhöht Bugatti den elektronischen Begrenzer auf eine Geschwindigkeit von 440 km/h. Damit ist Chiron Super Sport der schnellste Serien-Bugatti aller Zeiten.

Das Aggregat wird im Volkswagen-Motorenwerk in Salzgitter gefertigt – in einem Raum, der nur für die Herstellung des W16 Motors reserviert ist. Zwei Meister benötigen sechs Tage, um die 3.712 Einzelteile des Motors in präziser Handarbeit zusammenzubauen. Das fertige Aggregat wird anschließend verpackt und nach Molsheim transportiert, wo Motor und Getriebe im ersten Schritt der finalen Montage des Chiron im Bugatti-Atelier zusammengefügt werden. Danach folgt wochenlange Handarbeit, bis am Ende ein weiterer Bugatti auslieferungsbereit auf seinen Rädern steht.

Fotos: Benjamin A. Monn, Bugatti/Text: Bugatti, rr